Abstiegsfinale 1999: Als sich die Bundesliga vom Abgrund meldete…

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Abstiegsfinale 1999: Als sich die Bundesliga vom Abgrund meldete…

Am 29. Mai 1999, meldet sich die Bundesliga vom Abgrund. Die Saison 1998/99. Meisterkampf? Wie bitte? Der FC Bayern hat die Schale schon am 32. Spieltag aus der Pfalz zurückgeholt.

Nachdem Aufsteiger Lautern die Großkopferten 1998 als Meister blamiert hat, rüstet Bayern auf und bringt mal eben 15 Punkte zwischen sich und Vizemeister Leverkusen.

Abstiegskampf? Die halbe Liga hängt am 34. Spieltag noch mit drin. 5 Klubs können am letzten Tag noch absteigen. Der 1. FC Nürnberg, der VfB Stuttgart, der SC Freiburg, Hansa Rostock, Eintracht Frankfurt – in dieser Reihenfolge gehen die Abstiegskandidaten in die letzte Runde.

Am Ende triumphieren ausgerechnet die beiden Klubs, die die vermeintlich schlechtesten Karten haben.Band abfahren  für eine Sternstunde des Hörfunks – Die Bundesliga-Schlusskonferenz vom 29. Mai 1999 kann bis heute auch im deutschen Fußballmuseum in Dortmund angehört werden.

Die Reportagen-Konferenz, u. a. mit dem legendären Günther Koch (77), der seinen Herzensverein 1. FC Nürnberg kommentieren muss, gilt bis heute unter Fußballfans als absoluter Kult.

Ein Hauptdarsteller von damals hat sie wenig später als Geburtstagsgeschenk erhalten. Es ist Marco Gebhardt (46), der mit Eintracht Frankfurt gegen den 1. FC Kaiserslautern das vielleicht größte Nichtabstiegs-Wunder in der Bundesliga-Geschichte schafft.

Die Hessen, nach 2 bitteren Jahren in der 2. Liga gerade erst wieder aufgestiegen,  haben die schlechteste Ausgangsposition. Sie müssen hoffen, dass der 1. FC Nürnberg zu Hause im direkten Duell gegen den SC Freiburg oder Hansa Rostock beim bereits als Absteiger feststehenden VfL Bochum verliert. Zudem brauchen sie bei schlechterer Tordifferenz einen Sieg mit mindestens 4 eigenen Treffern. Das ist gegen den CL-Aspiranten und Erzrivalen aus Kaiserslautern bei fast 30 Grad Außentemperatur sicher keine einfache Aufgabe.

Aber: Es ist eine klassische Eintracht-Frankfurt-Situation. Nicht mit dem Rücken an der Wand, sondern schon in der Wand drin…

Die Mannschaft von Trainerlegende Jörg Berger hat nichts mehr zu verlieren. Mit 2 Siegen gegen Borussia Dortmund (2:0) und auf Schalke (3:2) hat sie sich dieses Finale verdient. Der VfB Stuttgart ist an diesem letzten Spieltag früh aus der Nummer raus. Stürmerstar Fredi Bobic, der sich am Saisonende Borussia Dortmund anschließen wird, erlöst die Schwaben mit dem 1:0-Siegtreffer gegen Werder Bremen. Doch was tut sich in den anderen Stadien? Dank Günther Koch in Nürnberg, Manni Breuckmann in Bochum und Dirk Schmitt in Frankfurt sind die Fans am Radio immer auf Ballhöhe. Nur, damit wir drüber gesprochen haben: Handy und Internet gibt es schon, aber eben noch keine Live-Ticker und Fußball-Apps. Man vertraut noch den vertrauten Stimmen aus dem Radio. Knarz.

Es wird ein Wechselbad der Gefühle, auch für die 3 Reporter. Der FCN sieht sich selbst nach 0:2 gegen Freiburg (38.), das damit durch ist, noch ganz weit weg vom Abgrund. Warum auch? In Frankfurt sind zur Pause keine Tore gefallen.  Auch das 1:0 für die SGE, ein China-Böller von Chen Yang (46.), wird in Franken noch ohne große Aufregung zur Kenntnis genommen. Dann kommt diese irre Schluss-Viertelstunde. Nach 82 Minuten bringen die Frankfurter Dampf in den Kessel. Bernd ,,Schnix” Schneider hat in seinem letzten Spiel vor seinem Wechsel nach Leverkusen das 4:1 für die Eintracht erzielt – nun fehlt noch ein Tor zur Rettung. Eine Minute danach kommt aus Bochum ein lang gezogenes ,,Maaaajak” von Manni Breuckmann zum 2:3 für Hansa Rostock durch Slawomir Majak. Für Hansa gilt das Breuckmann'sche Motto: ,,Es ist 17.12 Uhr und alles kann gut werden.” Nürnberg ist jetzt brutal unter Zugzwang. Wieder zur 2 Minuten später brüllt Günter Koch: ,,Toooor in Nürnberg, ich halt das nicht mehr aus, ich will das nicht mehr sehen, aber sie haben ein Tor gemacht.” Und zwar durch Marek Nikl (85.). Jetzt ist Frankfurt mit 4:1 abgestiegen… Denken alle.

Ein verrückter Norweger namens Jan Age Fjörtoft hat noch einen im Schuh. Der Eintracht-Stürmer, im Winter vom FC Barnsley aus der Premier League gekommen, überwindet Lautern-Keeper Andreas Reinke per Übersteiger-Trick zum 5:1 (89.). ,,Er hat das im Training immer wieder probiert”, erinnert sich Eintracht-Torschütze Marco Gebhardt im Kicker-Sportmagazin (Ausgabe 39 /2019), ,,und er ist dabei immer wieder auf die Haxen gefallen.”

Frei nach Winnie Schäfer: ,,Im Training besteht die Möglichkeit, so was zu üben.” Nicht üben kann man das, was sich in diesen unglaublichen letzten Minuten am Mikrofon abspielt. Nachdem das 5:1 der Frankfurter in Nürnberg publik wird, verfällt der ,,Club” in Schock-Starre. ,,Hier ist Nürnberg, wir melden uns vom Abgrund”, sagt Koch. Weil Frank Baumann den Ball aus weniger als einem Meter nicht im Tor von Richard Golz unterbringt, muss Nürnberg absteigen. ,,Abgekartetes Spiel”, brüllt ein wütender Fan in die TV-Kamera, ,,Abgeschlacht' gehörten die”, ein anderer.

In Frankfurt brechen ebenfalls alle Dämme. ,,Diese Mannschaft hat ein Wunder geschafft und diese Mannschaft hatte es verdient, weiter in der Fußball-Bundesliga zu spielen”, sagt Frankfurts ,,weißer Brasilianer” Ansgar Brinkmann zu Ligalive.net. ,,Wir Spieler sind alle irgendwo hin gerannt, die Fans waren auf dem Platz, es herrschte eine gigantische Stimmung und abends haben wir in einer Apfelwein-Wirtschaft so richtig die Sau raus gelassen”, erinnert sich Marco Gebhardt. Einer lässt auch die Sau raus. Fjörtoft tanzt auf der Ehrentribüne mit Frankfurts Oberbürgermeisterin Petra Roth und bringt den Spruch des Tages: ,,Jörg Berger hätte auch die Titanic gerettet.”


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