Reiner Calmund: Seine Sprüche, seine Brasilianer, sein Lebenswerk Leverkusen
Reiner Calmund ist eine lebende Legende der Fußball-Bundesliga – obwohl er nie selbst in der deutschen Eliteklasse gespielt hat. Der legendäre Manager, der Bayer 04 Leverkusen auf Europas Fußball-Landkarte brachte, wird am Freitag runde 70 Jahre alt. „Ein Schlitzohr mit Herz“, wie ihn SPORT BILD in der Laudatio nennt. Wir wissen: „Don Calli“ hat fast alle Tricks drauf, die die Branche kennt – aber einen goldenen Transfer tätigte ein anderer für ihn…
Wohl kaum ein anderer Protagonist in der Fußball-Bundesliga hat die Zeit nach der politischen Wende und rund um die deutsche Wiedervereinigung derart mitgebprägt, wie der kernige Rheinländer Reiner Calmund.
Der Fußball-Manager und Macher von Bayer 04 Leverkusen, der am Freitag seinen 70. Geburtstag feiert – Herzlichen Glückwunsch, lieber Reiner Calmund – hat noch vor seinen großen Rivalen Uli Hoeneß (66) vom FC Bayern München oder Willi Lemke (71) von Werder Bremen erkannt, welches Potenzial der Fußball der gerade untergehenden DDR bietet.
Reiner Calmund holt die Stars der DDR in die Bundesliga – und schreibt gesamtdeutsche Fußballgeschichte.Aber nicht nur diese Transfers, sondern auch die von ihm nach Deutschland geholten Brasilianer und die beiden deutschen Superstars Bernd Schuster und Rudi Völler verhelfen Bayer 04 Leverkusen in den 1980er und 1990er-Jahren endlich zur Geltung. „Calli“, wie der korpulente Überzeugungstäter genannt wird, hat Bayer 04 auf die Fußball-Landkarte geholt. Die bis heute einzigen Titel des „Werksklubs“, der lange Zeit ein Schattendasein in der Bundesliga fristet, fallen in seine Ära. Ein großer Transfer geht jedoch nicht auf sein Konto…Am 15. November 1989 setzt sich ein korpulenter Mann mit einem Fotografen-Laibchen auf die Ersatzbank der Fußball-Nationalmannschaft der DDR im Wiener Praterstadion. Er nimmt direkt neben dem Superstar des Teams, Matthias Sammer, Platz.
Für die von Eduard „Ede“ Geyer betreute Auswahl der DDR geht es wenige Tage nach dem Fall der Berliner Mauer in Wien gegen Österreich um die Teilnahme an der Weltmeisterschaft 1990 in Italien. Dazu wird es nicht mehr kommen. Österreich und ein gewisser Anton Polster schießen die DDR mit 3:0 aus allen WM-Träumen.
In diesem Trubel, in dieser ohrenbetäubenden Kulisse der österreichischen Fans im Stadion, zischt der Unbekannte mit rheinischem Idiom Sammer zu: „Ich bin kein Journalist, ich bin Wolfgang Karnath, die rechte Hand von Bayer Leverkusens Manager Reiner Calmund.“ Karnath, der sich mit einem Sanitäter-Ausweis aus seiner Bundeswehrzeit Zugang zum Innenraum verschafft hat, gelingt es, das Vertrauen von Sammer und den übrigen Stars zu gewinnen. Er trifft sich am späten Abend mit Sammer, Ulf Kirsten und Andreas Thom zu einem ersten formellen Gespräch in der Nähe des DDR-Teamhotels in Wien.
Wenig später klingeln Calmund und Karnath in Ost-Berlin bei Thom, der mit seiner Familie in einem Plattenbau-Hochhaus lebt. Calmund und „Karni“ gelingt es, Thom zu Bayer 04 Leverkusen zu holen. Der Ost-Berliner Star vom BFC Dynamo wird der erste DDR-Profi in der Fußball-Bundesliga. Der Hit: Leverkusen verpflichtet auch Stürmerstar Ulf Kirsten von Dynamo Dresden. „Du kommst zu uns! Feierabend!“, macht Calmund kurzen Prozess. „Eigentlich“, so verrät Wolfgang Karnath Ligalive.net, „hatten wir auch schon einen Vertrag mit Matthias Sammer, aber dann hat sich die Politik eingemischt.“ Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl (CDU) mahnt die Leverkusener: „Es kann nicht sein, dass alle DDR-Topspieler bei einem Klub spielen.“ Sammer landet am Ende beim VfB Stuttgart, Kirsten aber kommt zu Bayer 04.Thom und Kirsten, der mit 181 Toren in 350 Bundesliga-Spielen Rekord-Torjäger von Bayer Leverkusen wird, gelten bis heute als die „Königstransfers“ des Reiner Calmund.
Doch der XXL-Manager hat in seiner besten Zeit in Leverkusen noch mehr Glanz in die Hütte gebracht. Ab 1987 holt Calmund Brasilianer unters Bayer-Kreuz, die Liga-Geschichte schreiben werden.
Den Anfang macht Tita. Der Stürmer nennt Calmund nur „ein kleines, dickes Bandito“. Tita gelingen 1987/88 10 Tore in 21 Bundesliga-Spielen. Er führt Bayer 04 zum ersten großen Titel der Vereinsgeschichte: UEFA-Pokal-Sieger 1988. Titas brasilianische Nachfolger, Jorginho, Paulo Sergio, Zé Roberto, Emerson, Lucio werden die Bundesliga in Leverkusen, beim FC Bayern und beim HSV prägen und es teilweise zu Weltmeister-Ehren bringen.
Calmund versteht es aber auch, deutsche Altstars an den Rhein zu holen. Einen echten Coup landet er 1994 mit der Verpflichtung von Weltmeister Rudi Völler. Der 34-jährige Publikumsliebling kommt von Olympique Marseille nach Leverkusen – und Calmund zieht alle Register. Er fliegt unter falschem Namen („Udo Pieroth“) nach Marseille, aber über den Umweg Nizza. Niemand wird erfahren, dass der Leverkusen-Macher in Marseille mit dem deutschen Nationalstürmer verhandelt hat. Ein Jahr vorher gelingt Calmund bereits die Verpflichtung des legendären Bernd Schuster. Der 33-jährige, begnadete Mittelfeldspieler erweist sich jedoch nur in den ersten beiden Jahren als Glücksgriff. Als Calmund 1995 auf die Idee kommt, seinen Freund, den ehemaligen Leverkusener Erfolgstrainer Erich Ribbeck als Nachfolger von Dragoslav Stepanovic zurück zu holen, macht er eine bittere Erfahrung. Ribbeck mustert Schuster aus.
Der zieht nebst seiner mondänen Ehefrau Gaby vors Arbeitsgericht – und erstreitet viel Geld. „Am Ende“, verrät Calmund 2001, „hätte ich Gaby Schuster am liebsten Knallbonbons geschickt.“ Von überhöhten Transfersummen hält der XXL-Manager nichts: „Bevor wir für einen Torwart 15 oder 20 Millionen Mark bezahlen, stelle ich mich lieber selbst ins Tor.“Geschäftssinn, Schlitzohrigkeit, viel Herz und kernige Sprüche – das sind die Markenzeichen von Reiner Calmund.
Dass die Fußball-Öffentlichkeit 2001 auf Bayer-Coach Berti Vogts herumtrampelt, gefällt ihm gar nicht. „Es ist ein Gesellschaftsspiel geworden“, beginnt Calmund im DSF-„Doppelpass“ noch ruhig seine Wutrede, „Berti Vogts ist die dumme Sau – und die treiben wir einmal links, einmal rechts durchs Dorf. Und bei jeder Niederlage ist Berti Vogts der Schuldige!“
Legendär wird auch die Kokain-Affäre um Bayer-Trainer Christoph Daum (65) im Oktober 2000. Als Daum den Rückzug erklärt hat, richtet sein Freund Calmund im ZDF einen beeindruckenden Appell an den zur Zielscheibe gewordenen Coach: „Junge, wenn du krank bist, verzeih‘ ich Dir!“ Das, so ist Ulf Kirsten sicher, ist ein Haupt-Wesenszug des Jubilars: „Reiner Calmund hat den Verein wie eine Familie geführt. Da war eine Herzlichkeit, eine Wärme – mega! So einen zu haben, ist mehr wert als Titel.“
Die Titel! Die fehlen Calmund zur absoluten Veredelung seines Lebenswerkes Bayer 04. Gut, Leverkusen wird in der Ära von „Calli“ DFB-Pokalsieger 1993 und UEFA-Pokalsieger 1988. Aber den Titel, wonach sich am Rhein alle sehnen, den Titel, der 2000 nur noch Formsache zu sein scheint, holt die Werkself nie. Leverkusen schafft es in der Saison 1999/2000 auf dem Weg zur Deutschen Meisterschaft nicht, 3 Punkte Vorsprung ins Ziel zu bringen. Die 0:2-Niederlage beim Münchner Vorstadtklub SpVgg Unterhaching und das zeitgleiche 3:1 von Titelkonkurrent Bayern München lassen den Rekordmeister noch vorbeiziehen. Das Bild mit Calmund im Hachinger Sportpark und dem weinenden Ulf Kirsten in seinen Armen ist ein Stück Bundesliga-Geschichte. Calmunds Plan, nach dem 4:1 am 33. Spieltag gegen Eintracht Frankfurt jegliche Träumerei von der Meisterschaft zu verbieten, schlägt fehl.
„Wer von der Meisterschale redet, wird von mir eigenhändig erschossen“, droht er. Im Verlauf dieser für Bayer so unglücklich endenden Saison gibt Calmund auch außerhalb des Rasens alles.In der Halbzeit der Partie bei der Frankfurter Eintracht (2:1) stürmt Calmund mit langem Mantel und Schiebermütze in die Umkleidekabine. Es fallen rheinische Schimpfwörter ohne gallische Übersetzung.
Anschließend – Leverkusen dreht das Spiel noch – bekennt Calmund: „Ich habe in die asoziale Kiste gegriffen.“ Den in Abstiegsgefahr geratenen Ex-Meister Borussia Dortmund, der 1:3 in Leverkusen verliert, bezeichnet er als „Jammer-Titten.“
2001/2002 wird das Jahr, in dem Calmund und Bayer 04 Leverkusen die absolute Krönung verpassen. Die von Klaus Toppmöller trainierte Elf mit Stars wie Michael Ballack, Zé Roberto, Lucio, Bernd Schneider oder Oliver Neuville spielt zwei Finals – im DFB-Pokal und in der Champions League – und sieht 3 Spieltage vor dem Saisonende in der Bundesliga wieder wie der sichere Meister aus. Dann geschieht das Unfassbare. Borussia Dortmund fängt Bayer im Schlussspurt in der Meisterschaft noch ab. Das 2:1 am letzten Spieltag gegen Hertha BSC ist für Leverkusen ein Muster ohne Wert. Wieder nur Zweiter, wieder nur „Vizekusen.“ Calmund richtet einen Appell an die Fans. „Et is so bitter für uns“, schluchzt er ins Stadion-Mikrofon in der BayArena. Fußball-Deutschland sieht in diesem Moment den ganzen Herzschmerz des Mannes, für den Bayer Leverkusen eben kein „Plastikklub“ oder „Pillendreher-Verein“ ist. Bayer verliert die Endspiele im Pokal gegen den FC Schalke 04 (2:4) und Real Madrid in der Champions League (1:2). „Es ist nun mal so, dass in unserer Gesellschaft nur Titel zählen“, fabuliert Calmund schon nach der vorentscheidenden 0:1-Pleite in der Bundesliga am 33. Spieltag beim 1. FC Nürnberg, „und wenn du keinen Titel holst, kannst du dat Ding abhaken!“
Abhaken muss er 2002 auch die Episode mit Klaus Toppmöller. „20 Sekunden haben wir über die Abfindung gesprochen“, schildert Calli die Trennung vom Fast-Meistercoach, „die war sowieso vertraglich geregelt. Der Rest war rein atmosphärisch.“ Am Saisonende 2002/2003 entgeht Bayer 04 Leverkusen nur knapp dem Abstieg. Calmund steigt aus. „Ich war eine Leiche und der Fußball hat mir keinen Spaß mehr gemacht“, sagt er, „ich atme jetzt mal durch.“ Heute sehen wir Reiner Calmund als wortgewaltigen Sky-Experten, in diversen Koch-Shows und als bei der Spieleragentur SportsTotal, die unter anderem Weltmeister Toni Kroos betreut.