WM-Qualifikation im Folterstadion? Die UDSSR sagt “Njet”
Die UDSSR weigerte sich im November 1973 zum WM-Qualifikationsspiel in CHile anzutreten. Im Stadion wurde gefoltert und gemordet.
Carlos Caszely hebt am Mittelkreis die Arme hoch. Er tut so, als würde er in dem leeren Stadion in Richtung der Ränge grüßen. Es ist, als würde der in Ehren ergraute Fußballstar von einst noch einmal die eigenartige Atmosphäre im Nationalstadion von Santiago de Chile spüren. Er verharrt, blickt zum Himmel.
In der viel beachteten, von Frankreichs einstigem Enfant terrible 2 moderierten Fernseh-Dokumentation Les Rebelles du Foot (Dt.: „Rebellen am Ball“) berichtet der Chilene Caszely 2011 noch einmal von einem der größten WM-Skandale aller Zeiten. Und „Carlito“, wie der Mittelstürmer mit dem Wuschelkopf in seiner Heimat genannt wird, besucht für Cantona noch einmal den Ort der skurrilen Geschehnisse.
Es ist der 21. November 1973, Playoff-Spiel zur Weltmeisterschaft in der BR Deutschland. Chile gegen die UdSSR in Santiago, das ist die Paarung. Der Europameister von 1960 hat die Gruppe 9 auf dem eigenen Kontinent, Chile die Gruppe 3 in Südamerika gewonnen. Nach einem 0:0 in Moskau bestehen die Sowjets auf der Austragung des Rückspiels in einem anderen Land.
Zu Recht. In Chile regieren längst die Militärs. General Augusto Pinochet hat am 11. September 1973 den sozialistischen Präsidenten Salvador Allende gestürzt und geht rigoros gegen dessen Anhänger vor. Bereits in den ersten Stunden nach dem Putsch mehr als 12.000 Oppositionelle gefangen genommen.In diesem Stadion soll nun also WM-Qualifikation gespielt werden? Kaum vorstellbar. Dieser Umstand empört den schnell zu Überreaktionen neigenden Eric Cantona auch mehr als 30 Jahre später noch: „Es wurde so getan, als wäre nichts passiert. Und dann folgt ein neues Spiel. Das ist nicht zynisch, das ist unmenschlich. Der Fußball darf nicht zum Komplizen der Diktatoren werden.“
Leider war der Sport dies in der WM-Historie allzu oft. Wie 1973 in Chile. Die Sowjets machen Druck. Sie fordern in ihrer Depesche die Verlegung.
Andernfalls, so lässt Moskau verlauten, tritt die „Sbornaja“ nicht an. „Spiel in Chile ist unmöglich. Stopp. UdSSR-Fußballverband“, dies der ebenso knappe wie unmissverständliche Text des Telegramms vom 12. November 1973 an den Fußball-Weltverband.
Die FIFA lehnt eine Verlegung ab. Die Bedingungen, so heißt es im Antwortschreiben seien „regulär“. Der Journalist Vladimiro Mimica kann über derartige Formulierungen nur den Kopf schütteln. „Sie haben in diesem Stadion gespielt“, echauffiert er sich, „während die meisten Toten noch nicht einmal namentlich bekannt waren. Was hat sich die FIFA eigentlich dabei gedacht?“
“Carlitos Way” – Erst Geisterspiel, dann Rot bei der WM 1974
Vermutlich nicht viel. Aber es kommt, wie es kommen muss. Die UdSSR reist nicht an, verzichtet damit auch auf die WM-Teilnahme. Es ist das erste Mal, dass sich die Fußball-Sputniks nicht für eine WM-Endrunde qualifizieren. Die FIFA zwingt Chile schließlich, das Match ohne Gegner zu spielen.
Vor 30.000 Zuschauern in Santiago und in gespenstischer Atmosphäre. „Es war das Bescheuertste, was ich je erlebt habe“, sagt Carlos Caszely, „wir kamen auf den Platz und da war niemand. Keine gegnerische Mannschaft. Der Schiedsrichter pfeift Anstoß, wir laufen nach vorne, machen ein Tor und der Schiedsrichter gibt das Tor. Es war die absurdeste Aufführung, die man sich vorstellen kann und ich habe darin mitgewirkt.“ Um 19.34 Uhr trifft Chiles Kapitän Francisco „Chamaco“ Valdez zum 1:0 und setzte den Schlusspunkt unter der „absurdeste Spiel der Fußballgeschichte“, wie DER SPIEGEL 2007 sehr treffend titelt.
Carlos Caszely reist mit Chile schließlich zur WM nach Deutschland – und sieht im ersten Spiel gegen die Gastgeber nach einem Revanchefoul gegen Berti Vogts Rot. Schiedsrichter Dogan Babacan aus der Türkei zeigt Carlito die erste Rote Karte der WM-Historie. Zwar ist der zu diesem Zeitpunkt für Espanyol Barcelona spielende Angreifer im letzten Spiel gegen Australien wieder dabei, doch Chile ist nach der Vorrunde draußen.
Die 2001 eingesetzte Valech-Kommission zur Aufklärung der Verbrechen aus 17 Jahren Diktatur in Chile hat später 27.255 politische Gefangene anerkannt und mehrere zehntausend Folteropfer benannt. Das bizarre WM-Theater von 1973 bleibt für Carlos Caszely eine Mahnung der Geschichte: „Das Stadion wurde zu einem Konzentrationslager. In den Umkleiden wurde gemordet und vergewaltigt. Es ist eine Geschichte, an die man sich erinnern muss, damit so etwas nie wieder passiert.“