Die Horror-Nacht in Istanbul. Als die Schweizer siegten und flüchten mussten

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Die Horror-Nacht in Istanbul. Als die Schweizer siegten und flüchten mussten

WM-Qualifikation Türkei gegen Schweiz am 15. November 2005. Die Horror-Nacht in Istanbul. Die Schweiz qualifiziert sich in einem Skandalspiel. Jagdszenen am Bosporus

Die Ankündigung von Senol Günes (50) ist vollmundig. Manche Beobachter sagen mit dem Abstand der Jahre, sie sei überheblich gewesen.

„Hier sind wir Gäste, 2006 laden wir ein“, erklärt der Nationaltrainer der Türkei nach dem Viertelfinal-Erfolg gegen den Senegal (1:0 n. V.) am 22. Juni 2002 im japanischen Osaka. Mit der „Heim-WM“ meint Günes das Turnier 2006 in Deutschland, wo es eine der größten türkischen Gemeinden außerhalb des Landes am Bosporus gibt. Doch zu dieser beinahe selbstherrlich ausgesprochenen „Einladung“ wird es nicht kommen. Die türkische Mannschaft verliert auf der Zielgeraden die Nerven.

Die Plakate, die dem Gegner aus der Schweiz bei der Ankunft in Istanbul am 15. November 2005 präsentiert werden, verheißen nichts Gutes. „Willkommen in der Hölle“ ist zu lesen. „Huren Son Frei“, steht auf einem anderen Wisch, wobei der Verfasser wahrscheinlich ein paar Mal zu oft Fack Ju Göhte gesehen hat. Wie auch immer: Er zielt auf den Schweizer Stürmer Alexander Frei von Stade Rennes. Der Angreifer, der es ab 2006 bei Borussia Dortmund zum Kultspieler bringen wird, hat beim 2:0 im Hinspiel den zweiten Schweizer Treffer durch Valon Behrami vorgelegt – und der „Nati“ eine Top-Ausgangsposition fürs Rückspiel in Istanbul beschert.

Diesen Zwei-Tore-Vorsprung braucht die Mannschaft von Nationalcoach Jakob „Köbi“ Kuhn († 2019) auch. Der Empfang der Schweizer in der Türkei ist alles andere als sportlich. Selbst die Flughafenangestellten texten die Eidgenossen bei ihrer Ankunft mit Hass-Gesängen voll. Auf dem Weg ins Stadion wird der Mannschaftsbus der Schweizer mit Steinen und Eiern beworfen. Einfach hässlich. Die Schweizer Nationalhymne geht im Pfeifkonzert der 46.000 heißblütigen Fans unter.

Frei scheint den Türken in dieser hasserfüllten Atmosphäre nach zwei Minuten schon den Stecker zu ziehen. Er erzielt das 0:1. Da die Playoffs zur WM mit Hin- und Rückspiel im Europacup-Modus gespielt werden, braucht die Türkei bereits jetzt vier Tore, um doch noch nach Deutschland „einzuladen“.Tuncay Sanli dreht die Partie Mitte der ersten Halbzeit für die Türkei auf 2:1 um – jetzt fehlen dem WM-Dritten von 2002 nur noch zwei Tore. Ein Foul-Elfmeter von Necati Ates (52.) macht das Sükrü-Saracoglu-Stadion im Stadtteil Kadiköy, auf der asiatischen Seite der türkischen Metropole gelegen, endgültig zum Hexenkessel.

In dieser Atmosphäre behält der für den VfB Stuttgart stürmende Marco Streller in der 84. Minute kühlen Kopf: Sein 3:2 ist die Vorentscheidung. Sanlis drittes Tor zum 4:2 (88.) kommt zu spät – die Türkei fährt nicht zur WM nach Deutschland.

Was bei Abpfiff passiert, geht als „Die Nacht der Schande von Istanbul“ (BILD) in die Geschichte ein. Türkische Spieler machen Jagd auf die Schweizer.

Özalan Alpay tritt auf Marco Streller ein. Benjamin Huggel tritt den türkischen Assistenztrainer. „Es war die Hölle“, stammelt Dortmunds Schweizer Nationalspieler Philipp Degen, „so etwas Brutales habe ich noch nie erlebt.“ Streller: „Alpay hat mit den Füßen auf Benjamin Huggel eingetreten. Er hat rein gedroschen wie im Blutrausch.“

 

“Lauf rein, bleib bei mir!”

Der Schweizer Nationalspieler Raphael Wicky vom Hamburger SV hört kurz nach dem Schlusspfiff des belgischen Schiedsrichters Frank De Bleekere eine laute Stimme. „Lauf rein, bleib bei mir!“ – es ist der in Gelsenkirchen geborene Hamit Altintop. Wicky denkt nicht zwei Mal nach.

Er läuft einfach los – und rettet sich vor der Wut der türkischen Fans. Im Kabinengang der nächste Schock für Wicky und Co.: „Unfassbar, was sich im Kabinengang abspielte“, erzählt Wicky in BILD Hamburg, „überall gab es Schlägereien, Ordner, Spieler, Delegierte haben aufeinander eingeprügelt. Am meisten hat es mich schockiert, wie die türkischen Spieler geschlagen haben.“

Zwei Stunden müssen die Schweizer hinter verschlossener Kabinentür warten und bangen. An eine geordnete Abreise ist nicht zu denken. Das mitgebrachte Bier und den Champagner verkosten sie trotzdem. „Es ist geil, dass wir bei der WM dabei sind“, freut sich Wicky, „für mich und andere ist ein Kindheitstraum in Erfüllung gegangen.“

Halil Altintop vom 1. FC Kaiserslautern ist dagegen enttäuscht: „Es ist schon peinlich, wenn man weiß, dass die ganze Welt über uns redet. Wir können einfach nicht verlieren.“ Stimmt wohl. Und für die „Heim-WM“ in Deutschland 2006 gilt für die Türkei: Du kommst hier nicht rein.


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