WM 1982: Ziemlich beste Feinde – Toni Schumacher und Patrick Battiston
Im Halbfinale der WM 1982 trifft der deutsche Torhüter Toni Schumacher Patrick Battiston aus Frankreich schwer am Kopf. Ein Skandal. Frankreich verliert nach Verlängerung
Für den 65-fachen französischen Nationalspieler Marius Trésor (58) ist klar: „In diesem Spiel ist so viel passiert, dass man es einfach nicht vergessen kann.“ Wohl niemand hat je vergessen, wo und mit wem er dieses Spiel gesehen hat. Aber: Wo fangen wir an, in dieser unglaublichen Nacht von Sevilla, an diesem 8. Juli 1982?
Vielleicht mit der Milde der Verlierer? „Ich habe den deutschen Spielern das alles nie übel genommen, weil sie nur ihr Land vertreten haben“, erteilt Trésor dem Gegner 2016 in der ZDF-Dokumentation Ziemlich beste Gegner – deutsch-französische Fußballgeschichten sozusagen die Absolution, „für mich ist der Schiedsrichter verantwortlich. Charles Corver.“
Der niederländische Referee hat in diesem WM-Halbfinale keinen guten Abend erwischt. Dass er diese eine Szene aus der 57. Minute im Estadio Ramón Sanchez Pizjuan falsch einschätzt, werden ihm die Franzosen niemals verzeihen. Frankreichs Superstar Michel Platini schlägt einen weiten Pass nach vorn. Der nur sieben Minuten zuvor für Bernard Genghini eingewechselte Patrick Battiston, Ex-Vereinskollege von Platini beim AS St. Etienne, kann den Ball nicht erreichen. Der deutsche Torhüter Harald „Toni“ Schumacher eilt aus seinem Tor heraus, doch Battiston hat die Kugel schon an ihm vorbei gelegt. Schumacher springt Battiston mit voller Wucht an, rammt den 1,82 m großen Abwehrspieler förmlich um.
Der Ball trudelt am deutschen Tor vorbei. Battiston bleibt aber bewusstlos liegen. Während Manfred Kaltz, gewohnt lässig mit heruntergelassen Stutzen, teilnahmslos zusieht, kümmern sich Dominique Rocheteau und Marius Trésor sofort um ihren Mannschaftskameraden. Sie winken Hilfe herbei, haben die Situation blitzschnell erkannt.„Ich erinnere mich, wie viele in Frankreich, an die Aktion von Schumacher gegen Battiston, wie er ihn förmlich köpfte“, beschreibt der französische Weltmeister und Ex-Bayernprofi Bixente Lizarazu diese unglaubliche Szene.
Unfassbar ist sie auch deshalb, weil Schumacher wie abwesend zusieht, wie sich Sanitäter und Helfer über Battiston beugen. Völlig ungerührt legt sich der Kölner den Ball am Fünfmeterraum zum Abstoß hin. Referee Corver gibt Schumacher für seine Aktion nicht einmal die Gelbe Karte. „Wir hatten in diesem Moment das Gefühl einer großen Ungerechtigkeit“, ärgert sich Frankreichs Spielmacher Alain Giresse noch heute.
Der Franzose rührt sich nicht. Er verliert bei dem Zusammenprall zwei Zähne, ein Halswirbel ist angebrochen, er fällt ins Koma, muss umgehend vom Platz getragen werden. Den Rest des Jahrhundertspiels sieht er erst später. Im Fernsehen. „Ich habe gedacht, er ist tot“, erklärt der französische Teamarzt Maurice Vrilac nach dem Spiel, „ich habe zwei Minuten lang keinen Puls gefühlt.“
Die französischen Kommentatoren haben Schumacher schon vor dem Foul an Battiston im Visier. „Seine Aktionen sind nicht mehr normal“, sticheln sie. Schumacher spielt an diesem für beide Fußballnationen so denkwürdigen Abend wie im Adrenalinrausch. Nach einem abgefangenen Ball geht der Europameister von 1980 auf den am Boden liegenden Didier Six los, gibt ihm einen Schubser. Dazu gibt es ein paar Kölsche Schimpfworte ohne gallische Übersetzung.
“Ich war sicher: Den Ball kriegst Du!”
„Es gehört zu meinem Leben“, sagt Schumacher im WM-Jahr 2010, „es ist schade, dass meine Karriere oft auf diese eine Szene reduziert wird, denn das war nicht Toni Schumacher.“
Dass er sich nicht um den am Boden liegenden Battiston gekümmert hat, erklärt Schumacher später so: „Es war Ausdruck meiner tiefsten Unsicherheit, Patrick wurde bewusstlos herausgetragen und ich hatte Angst, es wäre etwas Schlimmes passiert.“ In BILD stellt der Keeper aber auch klar: „Ich bin im guten Glauben rausgelaufen, weil ich mir sicher war: Den Ball kriegst du! Für den Zusammenprall und all das, was danach passiert ist, habe ich mich entschuldigt.“
Doch Toni lässt in seiner Verunsicherung auch einen Spruch los, der ihm noch lange nachhängt. „Ich weiß, wie es um Battiston steht“, sagt er nach dem Spiel mürrisch. Auf den Hinweis eines Reporters, wonach der Franzose zwei Zähne verloren hätte, meint er flapsig: „Wenn es nur die Jacketkronen sind, die bezahle ich ihm gerne.“
Es sind Sprüche wie dieser, die Schumacher und die deutsche Nationalmannschaft bei dieser Weltmeisterschaft auch noch die letzten Sympathien kosten. Zuvor hat die Mannschaft von Bundestrainer Jupp Derwall in der „Schande von Gijon“ mit einem 1:2 gegen Algerien, einem skandalumwitternden Trainingslager am Schluchsee („Schlucksee“) und mit dem Ballgeschiebe gegen Österreich (1:0) schon eine Menge Kredit verspielt. Es wird dauern, bis die Fans dem DFB-Team diese WM verzeihen werden…
Toni Schumacher – Beruf Unmensch?
Das Traumtor von Klaus Fischer per Fallrückzieher in der Verlängerung zum 3:3, zwei gehaltene Elfmeter von Toni Schumacher und das späte Happy End durch den letzten verwandelten Elfmeter von Horst Hrubesch im Krimi gegen Frankreich können nichts mehr retten.
„Dass der Schiedsrichter nach der Aktion gegen Battiston keinen Elfmeter gibt, obwohl der mit zwei ausgeschlagenen Zähnen im Koma liegt, das ist ein Skandal“, giftet Platini nach dem Spiel in der Mixed Zone, „elf gegen Zwölf zu spielen, ist nicht leicht, vor allem nicht gegen die Deutschen. Ich bin angewidert und drücke den Italienern im Finale die Daumen.“
Auch die französische Presse macht aus ihrer Abneigung gegen die Deutschen nach dem Spiel keinen Hehl. „Schumacher. Beruf: Unmensch“, titelt Frankreichs Fußball-Bibel L‘ Equipe.
Die Zeitung Le Figaro macht den Tünn zum „wilden Tier“, andere Medien sehen in dem Kölner Torwartidol den „Schlächter von Sevilla“, wittern ein „Attentat auf Battiston“ und rufen gar den „Dritten Weltkrieg zwischen Deutschland und Frankreich“ aus.
Nach dem Skandal: BILD schickt Toni in den Urlaub
Dass Deutschland drei Tage später im Finale von Madrid platt ist und mit 1:3 klar gegen Italien verliert, ist eine Genugtuung für die Franzosen, die sich mit einem 3:2 gegen Polen Rang drei sichern. Ihre WM-Zeit wird noch kommen.
Für Schumacher aber ist der Fall noch lange nicht ausgestanden. Das Foul wird zur Staatsaffäre. Bundeskanzler Helmut Schmidt und Frankreichs Staatspräsident Francois Mitterand, beide nicht eben die glühendsten Fußballfans, müssen eigens Presseerklärungen verfassen. „Ich bin zu ihm nach Frankreich gefahren“, erzählt Schumacher später, „habe mich dafür entschuldigt, dass ich mich nicht nach ihm erkundigt habe, aber ich habe ihm später auch gesagt: Pass auf, Patrick, wenn der Ball heute wieder so käme, dann wäre ich wieder so unterwegs…“
Schumacher weiter: „Es wurde gedroht, meine Kinder zu entführen, ich hatte Personenschutz, das war nicht einfach so abzutun. Wenn wir zu Länderspielen gereist sind, bin ich durch den Heizungskeller ins Hotel geführt worden – und der Rest der Mannschaft kam durch den Haupteingang rein.“ Dass Schumacher schließlich zur Normalität zurückfindet, liegt an den Boulevardkönigen von BILD. Die Zeitung spendiert dem in Ungnade gefallenen Keeper einen einwöchigen Urlaub.
Patrick Battiston hat seinem Gegner längst verziehen. Ob ihn der Europameistertitel zwei Jahre später im eigenen Land und das gleichzeitige, blamable Vorrunden-Aus der Deutschen milde gestimmt haben, ist nicht bekannt. Doch auch Battiston ist ein milder Verlierer. „Wir sind uns danach noch einmal begegnet. Ich spürte weder Aggression noch Rachegelüste“, sagt mit einigem zeitlichen Abstand, „ich wollte nur wissen, was in ihm vorgegangen ist. Das reicht mir.“