WM 1986: Der Stein des Anstoßes
Uli Stein hält sich bei der WM 1986 für den besseren Torhüter. Franz Beckenbauer setzt auf Toni Schumacher. Stein nennt den Kaiser Suppenkasper und fliegt aus dem Team.
Eigentlich müsste Franz Beckenbauer dem Hamburger Torhüter Uli Stein ewig dankbar sein. Der „Kaiser“ hat in dem nicht eben für extravagantes Möbel-Design einstehenden Keeper bei seinem Umzug nach Kitzbühel einen dankbaren Abnehmer für sein altenglisches Wohnzimmer gefunden.
Dies, so erinnert sich Uli Stein in seiner reißerischen, 1993 erschienen Autobiographie Halbzeit – Eine Bilanz ohne Deckung (Verlag: Knaur), sei neben der Tatsache, dass man gemeinsam beim Hamburger SV spielte, die einzige persönliche Komponente gewesen. Das klingt nach Eiszeit, pardon: Steinzeit.
Eigentlich soll bei der Weltmeisterschaft 1986 in Mexiko die Zeit von Uli Stein anbrechen. Seit seinem Länderspiel-Debüt am 7. Juni 1983 gegen Jugoslawien (4:2) hat er in sechs Einsätzen nur drei Gegentore kassiert. Insgesamt macht der Europapokalsieger von 1983 aber nur vier Länderspiele über 90 Minuten. Stein kommt an seinem Dauer-Rivalen Toni Schumacher vom 1. FC Köln nicht vorbei.
Stein und Schumacher – das ist eine scheinbar unendliche Torhütergeschichte im von Egoismen überladenen deutschen Fußball der Achtziger. Nach Steins Rauswurf in Hamburg 1987 und Schumachers fast zeitgleichem Aus beim FC reichen sich die Streithähne medienträchtig im Duell ihrer neuen Klubs Eintracht Frankfurt und FC Schalke 04 die Hand. Dass beide Torhüter-Antagonisten rausflogen, verdanken sie ihrer Eigenwilligkeit und Unbeherrschtheit.
Stein hat dem Münchner Jürgen Wegmann im Supercupfinale HSV gegen den FC Bayern (1:2) einen Faustschlag versetzt. Schumacher schreibt sich mit seiner Autobiographie Anpfiff ebenfalls 1987 beim FC und beim DFB mit ein paar Indiskretionen, die heute handelsüblich daher kämen und bei Kennern der Szene nur ein müdes Lächeln hervorrufen würden, ins Abseits.Die Weltmeisterschaft 1986 ist allerdings noch die Bühne für die beiden besten deutschen Keeper ihrer Zeit. „Mit Stein“, sagen viele HSV-Anhänger noch heute, „wären wir 1986 in Mexiko Weltmeister geworden.“ Stein sieht es ähnlich: „Mit mir waren viele der Überzeugung, dass ich der bessere Torhüter sei.
Nur die Trainer und Funktionäre des DFB schienen in der Torwartfrage blind zu sein. Nichts bewegte sich. Verdammt zur ewigen Nummer zwei.“ Dass sein Rivale im Finale gegen Argentinien (2:3) patzt, ist für Stein kein Trost. Als Schumacher unter einem Freistoß von Jorge Luis Burruchaga hindurchtaucht, den José Luis Brown zum 1:0 nutzt, ist Stein aber schon längst zu Hause.
Franz Beckenbauer, 1984 in einer unglaublichen Nacht-Runde nach dem EM-Aus in Frankreich von BILD quasi ins Amt gehievt, sorgt bei seiner WM-Premiere als „Teamchef“ des DFB für ein Novum. Als erster deutscher Coach schickt er bei einer Weltmeisterschaft einen Spieler nach Hause – und das ist Uli Stein. Den ersten „Stein-Schlag“ landet der beleidigte Herausforderer schon vor der Abreise nach Mexiko. „Ich habe nicht das Gefühl, dass es bei der Nationalmannschaft nur nach Leistung geht“. Schumacher reagiert. „Er zog alle Register des Psychoterrors“, ist Stein sicher. Mit dem siebenwöchigen Einkasernieren im mexikanischen Querétaro beginnt die Final-Runde im Torhüter-Duell.
Als Beckenbauer vor dem ersten Spiel gegen Uruguay (1:1) gewohnt lässig mit „Im Tor spielt der Toni“ seinen Keeper nominiert, hat Uli Stein die Faust schon in der Tasche. Warum er bei dieser WM nur Tourist ist? Das kann ihm auch Beckenbauer während der schweißtreibenden Trainingseinheiten in der Gluthitze von Mexiko nicht erklären. „Du, Uli, ich weiß genau, du bist in einer Weltklasse-Form. Es gibt keinen, der besser hält als du. Aber hier kannst du nicht spielen“, raunt ihm Beckenbauer zu. Uli Stein ist sprachlos. Angeblich sind es Sponsorenverträge, die Schumacher hat und die dem DFB wichtig sind. Wie auch immer. Er sucht das Gespräch mit Beckenbauer, er will eine „goldene Brücke“. „Ich schlug vor, Eike Immel, die aktuelle Nummer drei, gegen Marokko auf die Bank zu setzen und mich im Schatten der Tribüne zu entlassen“, schreibt Stein in Halbzeit.
Stein in Zivil auf der Bank – eine Qual!
Er geht jedoch den falschen Weg und weint sich bei einem Hamburger Journalisten aus. Bis 1990 wohnen die mitgereisten Reporter noch auf teilweise engstem Raum im Hotel der Nationalmannschaft. Heute undenkbar.
So bekommen die Journalisten mit, wie Stein den schon damals medial eigentlich unantastbaren Franz Beckenbauer als „Suppenkasper“ tituliert. Dass er die Nationalmannschaft – 1986 wirklich kein Synonym für spielerischen Glanz – angeblich auch eine „Gurkentruppe“ tauft, stimmt nicht. Dieser Ausdruck stammt von seinem Mitspieler Matthias Herget. Nach dem mühsamen 1:0 gegen Marokko im Achtelfinale, bei dem Stein bereits nicht im Kader ist, zieht Beckenbauer die Reißleine.
„Seine gesammelten Werke, die er von sich gegeben hat, haben uns zu diesem Schritt veranlasst“, erklärt Franz Beckenbauer in der täglich mit Spannung erwarteten DFB-Pressekonferenz. Der „Kaiser“ schafft es zudem, noch ein bisschen Product-Placement für die DFB-Sponsoren in die Stein-Verabschiedung zu packen: „Er ist bereits in Mexiko-City und wird morgen mit der Lufthansa zurückfliegen.“
Stein fühlt sich danach mies behandelt – und falsch zitiert. „Den Ausdruck Suppenkasper habe ich gebraucht, aber nicht als einziger. Auch ist die Geschichte anders abgelaufen, als sie dargestellt wurde“, erzählt er im August 1986 dem SPIEGEL in einem ausführlichen Interview, „wir saßen bei den Mahlzeiten immer in der gleichen Gruppe an einem Tisch: Hoeneß, Augenthaler, Rummenigge, Jakobs, Matthäus und ich. Da wurde natürlich auch schon mal ein bisschen über andere gelästert, an einem Abend dachten wir uns Spitznamen aus, und so kam es zum Suppenkasper. Aber das war doch nur als Joke in unserem kleinen Kreis gedacht. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass mich einer denunzieren könnte.“
Falsch zitiert oder blöd gesprochen?
Eine sehr naive Annahme. Noch dazu, nachdem ihn Mitspieler Dieter Hoeneß, der Stein für „einen prima Kumpel“ hält, eingeschärft hat, zu den Journalisten auf Distanz zu gehen. In einem Mannschaftshotel, indem mehrere Boulevardreporter untergebracht sind, die nervös auf die nächste Story warten, steht man in dieser Hinsicht als Nationalspieler auf verlorenem Posten.
„Ich habe mich bei Beckenbauer entschuldigt, weil er mir sagte, dass er auf die Entscheidung keinen Einfluss hat“, erklärt Stein nach dem WM-Aus und dem damit verbundenen Rücktritt aus der Nationalmannschaft, „die Sache kam von DFB-Präsident Neuberger. Angesichts dieser Konstellation nutzte es natürlich auch nichts, dass sich Rummenigge, Hoeneß und Magath bei Beckenbauer für mein Verbleiben einsetzten.“
Uli Stein, der ideale Sündenbock. Dem SPIEGEL sagte er: „Jetzt konnte man der Öffentlichkeit vorgaukeln, ich sei derjenige gewesen, der das harmonische Zusammenleben gestört habe. Dabei hat es die ganze Zeit gekracht wie im Wilden Westen.“ Auch zwischen Beckenbauer und seiner Nummer eins, Toni Schumacher. Während des Krafttrainings, so berichtet der Kölner später in seinem Buch, habe Beckenbauer unbedingt eine Unterredung mit ihm gesucht. Als Schumacher unbeeindruckt weiter pumpt, platzt Beckenbauer der Kragen: „Wenn du jetzt nicht aufhörst, schmeiß ich die Scheiß-Hanteln aus dem Fenster“. Schumacher blieb cool: „Die kannst du ja gar nicht heben.“ Lockerheit, die Uli Stein scheinbar fehlt.
Er wird nie wieder für Deutschland spielen. Beckenbauers Versuch, ihn vor der erfolgreichen WM 1990 zurückzuholen, geht schief. Zu Nationalmannschaftsehren kommt er später aber dennoch: Als renommierter Torwart-Trainer in Berti Vogts‘ Team in Aserbaidschan und Nigeria. Schön. Aber ein Happy End ist das nicht.