Ronaldo: Der leblose Superstar in Paris
Im WM Finale 1998 zwischen Frankreich und Brasilien wirkte Ronaldo seltsam derangiert. Die Gründe sind bis heute unklar. Die Folgen eindeutig: Frankreich wurde Weltmeister.
Roberto Carlos unterbrach sein Telefonat. Am anderen Ende der Leitung war sein französischer Freund Christian Karembeu.
Der Mittelfeldspieler, am Abend immerhin Gegner im WM-Finale von Paris, musste warten. „Einen Moment, da ist etwas mit Ronny“, sagt Carlos und legt den Hörer weg. Irgendwas mit Ronny…„Ronny“ ist kein anderer als Ronaldo Luiz Nazario de Lima, geboren am 22. September 1976 in Rio de Janeiro. Besser bekannt unter dem Namen Ronaldo. Der begehrteste Fußballer der Welt. Mit vier Toren und drei Assists in sechs WM-Spielen hat der gerade mal 21 Jahre alte Ronaldo die „Selecao“ erwartungsgemäß ins Finale gebracht.
Nun liegt „El Fenomeno“, das Phänomen des Weltfußballs, leblos auf dem Boden eines Zimmers im vornehmen Landhotel Chateau de grande Romaine in Lesigny, 34 Kilometer südöstlich von Paris. Es ist früher Nachmittag und vor dem großen Finale gegen den WM-Gastgeber wollten sich die Brasilianer eigentlich nur ausruhen. Edmundo ist als erster zur Stelle. Er und Cesar Sampaio finden Ronaldo und retten ihm mit seinen Erste-Hilfe-Maßnahmen möglicherweise das Leben.
„Als ich Ronaldo sah, habe ich sofort alle geweckt, es war ein Riesenschock für mich und meine Mitspieler“, erzählt Edmundo 2018 in einer englischen Dokumentation zur WM 1998, „wir haben ihm die Zunge aus dem Hals gezogen.“Ronaldo ist nicht im Teambus, als die Mannschaft nach Paris abfährt.Was dann passiert, ist nebulös und wird zum späten Skandal dieser WM. Während die französischen Fans erwartungsfroh zum neuen Fußballtempel im Pariser Vorort St. Denis kommen, sickern auf der Pressetribüne die ersten Gerüchte durch. „Ich kam am Stadion an und wurde sofort angesprochen: Hast du schon gehört? Ronaldo ist nicht dabei“, erinnert sich der inzwischen für BBC Sport arbeitende WM-Torschützenkönig von 1986, Gary Lineker.
Es stimmt. Auf der wenig später vom brasilianischen Verband (CBF) herausgegebenen Aufstellung fehlt Ronaldo. Die französische Mannschaft ist bereits beim Aufwärmprogramm, als der Heilsbringer der Brasilianer doch noch im Stadion eintrifft. Er steigt aus einem Taxi. Ronaldo ist kreidebleich. Er trägt Shorts, Tennis-Schuhe und hat nichts als einen Kulturbeutel bei sich. Er wirkt komplett entrückt. „Glatzkopf“, verkündet Ronaldo dem völlig perplexen Verbands-Pressesprecher Ricardo Stetyon, „ich werde spielen.“
Kurz darauf wissen es auch die Franzosen. „Ich ging nach dem Warm-up in die brasilianische Kabine und sagte zu Ronny: Wir können Euch unmöglich ohne dich schlagen“, so Youri Djorkaeff, 1998 gemeinsam mit Ronaldo und Inter Mailand UEFA-Cup-Sieger. „Keine Angst, mein Freund, wir sehen uns gleich auf dem Platz“, antwortet der Brasilianer. „Es wirkte so, als hätten sie ihm Aufputschmittel gegeben“, mutmaßt Edmundo, der Ronaldo im Hotel mit seinen Erste-Hilfe-Maßnahmen möglicherweise das Leben und die Karriere gerettet hat. „Ich will spielen, mir geht es gut“, wiederholt Ronaldo. Als Setyon den auf eigene Verantwortung aus dem Krankenhaus entlassenen Ronaldo in die Kabine bringt, kann man eine Stecknadel fallen hören.
Zico, Brasiliens ungekrönter weißer Pelé, ist Delegationsleiter beim Weltmeister. Er kennt noch mehr Details zu Ronaldos Wunderheilung. „Nachmittags sagten sie Ronaldo könne nicht spielen, am Abend sagten sie, er könne spielen. Es war verrückt.“ Zeugen bestätigen, dass Zico Toledo am Hemd packte und drohte: „Wenn dem Jungen etwas passiert, bringe ich dich eigenhändig um.“ Der weiße Pelé setzt sich nicht auf die Bank und hat danach nie wieder für die brasilianische Nationalelf gearbeitet. „Ich hatte das ganze Spiel über Angst“, sagt Zico 2006. Tatsächlich läuft Ronaldo als letzter brasilianischer Spieler ins Stade de France ein. Das Finale, so hofft man auf Seiten des Titelverteidigers, ist trotz oder gerade wegen der Verwirrspielchen um den Superstar gerettet. Das Happy End für die Brasilianer, die sich nach dem Triumph von 1994 nun in Frankreich unmenschlich hohen Erwartungen gegenüber sahen, scheint zum Greifen nahe. Dank Ronaldo.
Brasilien flüchtet sich in Floskeln
„Wir waren davon überzeugt, dass Ronaldo es für uns schaffen würde“, sagt Romario, Star der Weltmeister-Mannschaft von 1994, in der Ronaldo vier Jahre zuvor in den USA nicht zum Einsatz gekommen ist. Edmundo glaubt hingegen zu wissen: „Ronaldo hatte Knie-Probleme und konnte nicht richtig trainieren. Sie mussten ihn permanent behandeln.“ Ronaldos Dilemma liegt jedoch nicht nur auf dem Platz. Er ist mit seinen getrennt lebenden Eltern im gleichen Haus untergebracht. Zoff im Hause de Lima vom ersten Tag an…
Die oftmals inszeniert wirkende Harmonie im brasilianischen Team – sogar die Landung in Frankreich wird aus dem Cockpit heraus live in die Heimat übertragen – wackelt nach dem 1:2 im Vorrundenfinale gegen den Außenseiter Norwegen in Marseille bedenklich. Ronaldo trainiert kaum, zeigt sich lieber mit nacktem Oberkörper bei den Grillpartys des Teams im Hotelgarten.
Seine Fitness bleibt bis zum Ende das große Thema in der vollkommen überhitzten brasilianischen Medienlandschaft. „200 Millionen Menschen haben sich zuhause in Brasilien darauf verlassen, dass wir sie glücklich machen“, sagt der 39-fache brasilianische Nationalspieler Edmundo. „O Animal“, das Tier, wie der bullige Stürmer vom AC Florenz genannt wird, muss für Ronaldo im Finale entgegen der ersten Ansage von Coach Mario Zagallo auf die Bank. Er macht sie eine halbe Stunde vor dem Anstoß. Dass er nach 74 Minuten für Sampaio noch in die Partie kommt, ist wohl kein Trost für ihn.
Die Anspannung nach dem Drama und dem folgenden Possenspiel um Ronaldo können die Brasilianer in 90 Minuten nicht mehr lösen. „Der Vorfall war eine Belastung für das ganze Team“, glaubt Romario. Anders als Ronaldo ist Frankreichs Superstar auf den Punkt konzentriert. Zinedine Zidane trifft per Kopf zum 1:0 und lässt dass Stade de France beben. Nach Ronaldos Zusammenprall mit dem französischen Keeper Fabien Barthez verliert Brasilien die Kontrolle – und das Spiel. Erneut Zidane und Emmanuel Petit machen Frankreich beim 3:0 zum Weltmeister. Der Traum der Brasilianer von der ersten Titelverteidigung seit 1962 und vom überhaupt erst zweiten südamerikanischen Triumph in Europa nach 1958 ist geplatzt.
Warum Ronaldo spielte bleibt ein Rätsel
Für Leander Schaerlaeckens, Fußballkolumnist von Fox Sports bleibt vieles nebulös. „Bis heute weiß man nicht, was in der Kabine der Brasilianer vorgefallen ist“, sagt er in der sehenswerten TV-Dokumentation 90ies Greatest (2014), „Ronaldo war nicht er selbst. Das schien einen Effekt auf das gesamte Spiel der Brasilianer zu haben, denn sie waren schlecht an diesem Tag. Sie fanden nie in dieses Spiel, sie waren wie verwandelt.“
Brasilien sucht nach Antworten. „Er stand auf dem Platz, weil ich ihn aufgestellt habe“, wütet Zagallo bei der Pressekonferenz nach dem Spiel im Stade de France, „drehen Sie mir nicht die Worte im Mund herum!“
Denn: Raum für Verschwörungstheorien lässt der Skandal auf jeden Fall. Der brasilianische Verband soll Druck ausgeübt haben, heißt es. Andere Quellen aus Brasilien besagen, die Sponsoren hätten auf Ronaldos Einsatz bestanden. Der Fall Ronaldo hat gezeigt, dass in Brasilien nicht die Menschen zählen, sondern nur die sportliche Leistung“, sagt Edmundo später. Aus seinen Worten spricht immer noch Verbitterung.
„Seit 20 Jahren erzählt mir jeder Taxifahrer, dass Brasilien das Spiel verkauft hätte, um die Weltmeisterschaft im eigenen Land zu bekommen“, klagt Edmundo, „wenn das so war, dann habe ich nie meinen Anteil erhalten…“